Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und ADHS in Kindheit und Jugend

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Veröffentlichungsdatum

15. September 2023

tl;dr

Eine systematische Literaturrecherche, bei der 28 Studien aus den letzten 10 Jahren mit Daten von Kindern bis 17 Jahre ausgewählt wurden, zeigen einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und ADHS-Symptomen bei Kindern und Jugendlichen.

Veröffentlicht: 2022 in „European Child & Adolescent Psychiatry“

Ausgangssituation

Während der Zugang von Kindern zu digitalen Medien stark zugenommen hat, ist auch die Zahl der Kinder, bei denen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert wird, stark gestiegen. Dies führt zu der Sorge, dass die Nutzung digitaler Medien Auslöser, oder zumindest ein bestärkender Faktor, für ADHS-Symptome sein könnte.

Früher wurde problematische Mediennutzung oft als die Konfrontation mit gewalttätigen Medieninhalten definiert, während sich neuere Studien eher auf die übergreifenden negativen Folgen der Nutzung digitaler Medien konzentrieren.

Auswertung von Längsschnittsstudien

Bisher gibt es dazu aber erst wenige Längsschnittsstudien. Diese haben den großen Vorteil, dass sie untersuchen können, ob und inwieweit die Nutzung digitaler Medien Veränderungen der ADHS-Symptome im Laufe der Zeit beeinflussen.

Einschlusskriterien

Ziel der Übersichtsarbeit war es daher, eine systematische Übersicht über Studien zu erstellen, die die folgenden Einschlusskriterien erfüllen:

  1. sie enthalten Längsschnittdaten, die Zusammenhänge zwischen digitalen Medien und späteren ADHS-Symptomen oder umgekehrt untersuchen,

  2. sie wurden innerhalb der letzten 10 Jahre veröffentlicht (d. h. 2011 bis Juni 2021),

  3. sie wurden in einer von Experten begutachteten Zeitschrift in englischer Sprache veröffentlicht und

  4. sie umfassen Kinder oder Jugendliche (Alter 0-17 Jahre).

Es wurden 28 Studien in die Auswertung eingeschlossen, die alle eine angemessene oder hohe Qualität aufwiesen.

Hypothesen

Eine erste Hypothese ist, dass der Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und ADHS-Symptomen einen direkten kausalen Effekt darstellt (d. h. etwas im digitalen Medieninhalt verursacht direkt Symptome von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität).

Die „Scan-and-Shift-Hypothese” besagt, dass das schnelle Tempo digitaler Medien die Nutzung von Aufmerksamkeitsressourcen zum schnellen Scannen und Verschieben fördern kann, wodurch es schwieriger wird, sich später mit Aufgaben zu befassen, die anhaltende Aufmerksamkeit erfordern.

Darüber hinaus wurde die Hypothese aufgestellt, dass es Kindern mit viel Bildschirmzeit schwerer fällt, weniger interessanten Aktivitäten Aufmerksamkeit zu schenken, möglicherweise weil sie die Fähigkeit verlieren, ihre Aufmerksamkeit intern zu regulieren, nachdem sie sich an die externe Regulierung durch digitale Medien gewöhnt haben.

Gewalttätige Medieninhalte wurden auch mit ADHS-Symptomen in Verbindung gebracht, was höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass gewalttätige Medien eine hohe Erregung auslösen und die Charaktere in dieser Art von Medien oft impulsiv handeln.

Es wurde auch gezeigt, dass Medien-Multitasking mit Unaufmerksamkeit zusammenhängt. Die Hypothese besagt, dass Personen, die Medien-Multitasking betreiben, Schwierigkeiten haben, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, weil sie es gewohnt sind, zwischen Medienaktivitäten und anderen (Offline- oder Online-)Aktivitäten zu wechseln.

Ergebnisse

Die Ergebnisse belegen einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen digitalen Medien und ADHS-Symptomen. Dabei sind die Zusammenhänge zwischen problematischer Nutzung digitaler Medien und ADHS-Symptomen etwas häufiger und stärker als Zusammenhänge zwischen Bildschirmzeit und ADHS-Symptomen. Ein hohes Maß an digitalen Medien war mit einem hohen Ausmaß an ADHS-Symptomen verbunden oder umgekehrt. Dabei gibt es auch indirekte Auswirkungen wie Schlaf und soziale Beziehungen.

Die Nutzung digitaler Medien kann Auswirkungen auf ADHS-Symptome haben, da eine solche Nutzung zu einer hohen Erregung führt, die wiederum zu Gewöhnung und Schwierigkeiten bei der Ausführung von Aktivitäten mit geringer Erregung führt. Es ist jedoch zu beachten, dass die Richtung dieser Effekte noch unklar ist, da die meisten Studien Querschnittskorrelationen untersucht haben. Nach dem „Differential Susceptibility to Media Effects Model” wählen Einzelpersonen wahrscheinlich Medieninhalte aus, die zu ihren bestehenden Dispositionen passen. Im Hinblick auf ADHS wird vermutet, dass sich Menschen mit dieser Störung stärker als andere zu rasanten Aktivitäten hingezogen fühlen, was zu hoher Erregung und sofortigen Belohnungen führt.

Personen mit ADHS haben außerdem häufig problematische Beziehungen zu Gleichaltrigen und zeigen schlechtere schulische Leistungen. Daher nutzen sie möglicherweise digitale Medien als Flucht vor der Realität und den negativen Gefühlen der Ablehnung, was wiederum die Entwicklung einer problematischen Nutzung digitaler Medien sowie anderer psychischer Gesundheitsprobleme vorhersagt. Daher kann Eskapismus sowohl ein Prädiktor für eine Spielsucht als auch ein Mittler zwischen der Nutzung digitaler Medien und einer schlechten psychischen Gesundheit sein.

Von Bedeutung ist hier auch die „Social-Compensation-Hypothese”, die besagt, dass Personen mit schlechten Offline-sozialen Netzwerken versuchen, dies dadurch zu kompensieren, dass sie sich stärker auf Online-Beziehungen konzentrieren.

Es wurden Zusammenhänge zwischen der Bildschirmzeit an sich, der Bildschirmzeit die mit gewalttätigen Inhalten verbracht wurde und Medien-Multitasking (Nutzung mehrerer verschiedener Medien gleichzeitig) und späteren ADHS-Symptomen gefunden. Umgekehrt hatten Kinder mit ADHS-Symptomen zu Studienbeginn später oft eine höhere Bildschirmzeit mit Computerspielen und sie haben sogar ein größeres Risiko für eine spätere Spielsucht.

Einige Effekte digitaler Medien können unmittelbare Folgen haben (z. B. Cybermobbing oder sexuelle Belästigung), während es bei anderen Effekten (z. B. Multitasking, Spielen mit hoher Erregung) erheblich länger dauert, bis sie sich manifestieren.

Da es sich bei der Adoleszenz um einen Zeitraum erheblicher Umstrukturierungen des Gehirns handelt, gilt sie als besonders sensibler Zeitraum, auch im Hinblick auf die Einflüsse der Nutzung digitaler Medien. Die frühe Adoleszenz ist auch die Zeit, in der viele Kinder beginnen, digitale Medien in viel größerem Umfang als zuvor zu nutzen. Einige offizielle Statistiken zeigen, dass „das neue 16 das 13. Lebensjahr ist” (d. h. die Nutzung digitaler Medien erreicht bereits im Alter von 13 Jahren ihren Höhepunkt im Vergleich zum vorherigen Höchststand mit 16 Jahren).

Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die frühe Zeit vor dem Bildschirm tatsächlich Auswirkungen auf die Kognition hat. Interessanterweise haben frühere Untersuchungen Zusammenhänge auch dann gefunden, wenn Kleinkinder nur im Hintergrund einem Fernseher ausgesetzt sind oder wenn Eltern bei der Interaktion mit ihrem Vorschulkind durch ihre digitalen Mediengeräte gestört werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kinder mit ADHS-Symptomen möglicherweise anfälliger für die Entwicklung einer Abhängigkeit von digitalen Medien sind als andere Kinder, wobei einige Personen (z. B. solche mit schlechten sozialen Beziehungen) einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus besteht, wie oben betont, wahrscheinlich ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen ADHS und der Nutzung digitaler Medien. Dies wird manchmal als „Reinforcing Spiral Model” bezeichnet, das darauf hinweist, dass Personen mit beispielsweise ADHS bestimmte Medieninhalte wählen, die ihrer vorherrschenden Veranlagung entsprechen, was wiederum problematische Verhaltensweisen verstärken kann.

Die Autoren betonen jedoch, dass die Durchführung weiterer Studien zur Untersuchung potenzieller Moderatoren und Mediatoren erforderlich sind, um die komplexen Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und ADHS-Symptomen besser zu verstehen.

Quellen

Thorell, L. B., Burén, J., Ström Wiman, J., Sandberg, D., & Nutley, S. B. (2022). Longitudinal associations between digital media use and ADHD symptoms in children and adolescents: a systematic literature review. European Child & Adolescent Psychiatry. https://doi.org/10.1007/s00787-022-02130-3

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